Wenn wir beim Bürsten wollen, dass das Pferd mit seinem Hintern zur Seite geht, so drücken wir häufig mit der Hand seitlich gegen seine Kruppe. Soll es einen Huf anheben, so drücken wir mit der Hand leicht von vorne auf den unteren Bereich des Beins. Soll es zum Aufhalftern den Kopf herunter nehmen, drücken wir leicht mit den Fingern zwischen den Ohren. Führen wir es am Halfter, so ziehen wir leicht nach vorne, wenn es schneller werden soll, und nach hinten, wenn es langsamer werden soll. Ähnlich nutzen wir die Zügel. Auf einen seitlichen Zug hin soll das Pferd seinen Kopf zur Seite nehmen, auf einen beidseitigen Zug hin soll insbesondere das Westernpferd die Nase vom Genick her senken, also „im Genick nachgeben“. Sitzen wir auf dem Pferd, so bedeutet ein einseitiger Druck mit unserem Bein je nach Position eine seitliche Bewegung des Pferdes vom Bein weg, ein beidseitiger Druck ist dagegen meist eine „treibende Hilfe“, also eine Aufforderung zu mehr Vorwärtsbewegung.
Die Gemeinsamkeit all dieser Mitteilungen des Menschen an das Pferd ist, dass der Mensch immer über direkte Berührung oder mit Hilfsmitteln wie dem Halfter einen Berührungsdruck aufbaut und vom Pferd erwartet, dass das Pferd diesem Druck weicht bzw. nachgibt. So weit so logisch, jedenfalls aus menschlicher Sicht. Aus Pferdesicht ist dies aber alles andere als selbstverständlich. Das intuitive Verhalten des Pferdes ist nämlich eigentlich ein so genanntes „Gegendruckverhalten“. Etwas banal formuliert bedeutet das aus Pferdesicht: „He, das ist komisch, mein Mensch drückt gegen mich. Das wird aber auf die Dauer wirklich nervig. Was mache ich denn da bloß? Wie komme ich aus dieser Situation heraus? Wie bringe ich meinen Menschen dazu, mit diesem komischen Verhalten aufzuhören? Aah, ich hab’s, ich drücke einfach zurück. Mein Mensch drückt mit seinem Gewicht gegen mich, ich drücke mit meinem Gewicht gegen den Menschen …“
Vergleicht man dann noch einmal kurz das Gewicht des Menschen mit dem des Pferdes, so ist offensichtlich, dass dies nicht ganz so läuft wie vom Menschen beabsichtigt. Dies bedeutet aber vor allem auch, dass in allen oben beschriebenen Szenarien das Pferd den Berührungsdruck als ein Signal mit einer bestimmten Bedeutung versteht, und darauf in einer erlernten Art und Weise reagiert.
Und mit den Stichworten „erlernen“ und „verstehen“ bin ich jetzt bei Mila angekommen. Die oben aufgezählten Beispiele sind nicht vollständig; offensichtlich gibt es sehr viel für das junge Pferd zu lernen. Und offensichtlich ist das erlernte Weichen weg von den verschiedensten Drucksignalen ein ganz zentraler Bestandteil der Pferdeausbildung. Oder, um es mit den Worten meiner Trainerin zu sagen: „Nachgiebigkeit, immer wieder Nachgiebigkeit, das ist ganz wichtig.“
Und wie lernt ein junges Pferd wie Mila das jetzt? Das Grundprinzip ist immer das Gleiche, aber ich nehme als Beispiel einmal eine recht einfache Situation. Der Mensch steht vor dem Pferd und drückt in Verlängerung des Armes mit einem Bodenarbeitsstick von vorne gegen die Brust des Pferdes. Im Vergleich zu einem Drücken mit der Hand gibt einem der Stick hier einen kleinen Sicherheitsabstand zum Pferd, wenn man nicht genau vorhersagen kann, wie das Pferd reagiert. Es geht dabei nicht darum, besonders fest zu drücken, nur gerade so deutlich, dass das Pferd in irgend einer Form reagiert. Also als eine Aufforderung, die aber in keinem Fall aggressiv rüber kommen darf. Das Pferd ist jetzt in der Situation, die ich oben bereits aus Pferdesicht beschrieben habe, es versucht höchstwahrscheinlich erst einmal, sich gegen den Druck zu lehnen. Der Mensch zeigt dem Pferd, dass dies nicht die richtige Antwort ist, indem er die Situation aufrecht erhält, ohne sie zu verstärken. Also einen konstanten Druck beibehalten. Oder, wenn das Pferd sich da zu stark rein lehnt, anstatt mit konstantem Druck mit klopfendem, rhythmischem Druck arbeiten. Das Pferd wird dann weiter nach der richtigen Lösung suchen, indem es die Sachen durchprobiert, die ihm sinnvoll erscheinen. Das kann z.B. seitliches Ausweichen sein. Irgendwann wird das Pferd sein Gewicht leicht nach hinten verlagern. Und damit bin ich bei einem weiteren zentral wichtigem und immer wieder auftretendem Element das Pferdeausbildung: dem Timing. Genau in dem Moment, in dem das Pferd in die richtige Richtung denkt, muss der Mensch seinen Druck komplett weg nehmen. Denn das Pferd merkt sich genau das Verhalten, das es in dem Moment gezeigt hat, als die unbequeme Situation geendet hat und alles wieder entspannt wurde. Wenn man das Ganze dann mehrmals wiederholt, kann man langsam auch einen deutlichere Schritt nach hinten oder später mehrere Schritte fordern. Aber am Anfang braucht das Pferd die unmissverständliche Rückmeldung des Menschen „Genau das ist der richtige Gedanke“.
Und wie viele Wiederholungen braucht es dann, bis das Pferd das „fertig“ gelernt hat? Ich vergleiche das gerne mit dem Autofahren. Ich habe nicht lange gebraucht um zu verstehen, wie das mit „Kupplung treten, den richtigen Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, Gas geben“ funktioniert. Aber wie viele Wiederholungen hat es gebraucht, bis ich das völlig automatisch gemacht habe, während meine Gedanken ganz woanders waren? Das Pferd braucht eine vergleichbare Anzahl an Wiederholungen, bis es wirklich verlässlich und sicher in der gelernten Weise reagiert, selbst dann, wenn es auf Grund äußerer Umstände abgelenkt ist.
Dieses Grundprinzip des ruhigen und konsequenten Dranbleibens, während das Pferd nach der richtigen Reaktion sucht, und des exakten Timings, wenn das Pferd die richtige Antwort findet, zieht sich durch die gesamte Ausbildung. Manche Trainer formulieren es auch als ein „ziehen wie ein unbeweglicher Pfosten“ und meinen damit, dass bei dem Pfosten sofort jeglicher Druck weg ist, wenn das Pferd ihm nur einen cm entgegen kommt. Denn der Pfosten weicht in der Situation nicht zurück, wie man es als Mensch schnell unbewusst tut.
Eine etwas andere, aber trotzdem aus Pferdesicht vergleichbare Situation ist zum Abschluss dieses Themas die Gewöhnung des Pferdes daran, mit einem Schlauch geduscht zu werden. Da Pferde im Gegensatz zu Hunden oder Katzen sehr stark schwitzen können, ist dies insbesondere in heißen und insektenreichen Sommern wichtig. Man sollte natürlich den Druck und den Wasserstrahl so regulieren, dass er auf keinen Fall unangenehm feste ist. Aber dann bedeutet das richtige Timing, dass man genau anders herum handelt, wie man es vielleicht automatisch tun würde. Hampelt das Pferd herum und weicht dem Wasser aus, so bleibt man dabei, das Pferd zu duschen, natürlich am Anfang an einer möglichst unproblematischen Körperstelle. Zeigt das Pferd das aus Menschensicht richtige Verhalten, indem es ruhig stehen bleibt, so hört man auf.
Wenn Mila dann merkt, dass sie richtig reagiert hat, entspannt sie sich immer, indem sie mit ihrer Zunge um ihr Maul herum schleckt. Und dann steht sie da mit einem sehr selbstzufriedenen Gesichtsausdruck, während ich sie an ihren Lieblingsstellen kraule. Weil wir beide wieder einen Schritt weiter gekommen sind.
