Das Fluchttier

In der Theorie wissen wir alle, die wir in irgendeiner Art und Weise mit Pferden zu tun haben, dass Pferde Fluchttiere sind. Der Reflex, sich im Zweifelsfall ohne zu überlegen zuerst einmal schnell in Sicherheit zu bringen hat Pferden in der Wildnis über unzählige Generationen das Leben gerettet und sitzt entsprechend tief. Und dann kommen wir Menschen. Wir wollen die Hufe anheben, so dass das Pferd auf drei Beinen stehen und nicht mehr augenblicklich fliehen kann. Wir konfrontieren das Pferd mit einer Umwelt voller Autos, LKWs und Traktoren, Schläuchen, die wie Schlangen aussehen und aus denen Wasser spritzt, Seilen und im Wind wehenden Plastikplanen, großen rauschenden Windrädern und was unsere Umwelt noch so alles zu bieten hat. Wir packen das Pferd ein, in Decken oder Sättel mit Bauchgurten, die beklemmend eng sein können. Wir wollen, dass sich das Pferd auf unser Signal hin in seiner Fluchtgangart Galopp bewegt, aber ohne sich dabei aufzuregen. Und dann wollen wir uns selbst genau an der Stelle platzieren, an der in den Naturdokus immer die Raubkatze auf dem Rücken des Zebras landet, bevor sie zu ihrem Biss am Genick ansetzt.

Kurz zusammen gefasst: Wir verlangen verdammt viel von diesem Fluchttier.

Man nennt diesen Prozess, dem Pferd „die Angst vor all diesen Situationen zu nehmen“ desensibilisieren oder aussacken, und es ist nicht verwunderlich, dass er in der Ausbildung einen großen Raum einnimmt. Ich selbst finde es wichtig, dass man sich dabei aber wie oben beschrieben immer wieder vor Augen führt, was man gerade von dem Jungpferd in dieser Situation tatsächlich erwartet. Denn das macht einen geduldiger und hilft dabei, einfühlsam das Pferd dabei zu beobachten und zu unterstützen, wie es selbst bemüht ist, mit der Situation gut umzugehen, selbst wenn es bestimmte Aspekte beängstigend findet.

Die wichtigste Grundvoraussetzung ist meiner Erfahrung nach eine vier- oder zweibeinige Bezugs“person“, der Mila als Jungpferd auf jeden Fall vertraut und an der sie sich orientiert. Langfristig möchte man natürlich dahin kommen, dass der Mensch diese Rolle komplett erfüllen kann und man kein Begleitpferd braucht. Aber man muss sich die Herausforderungen auch in solche Häppchen zerlegen, das man sie mit zufrieden stellendem Ergebnis bewältigen kann, ohne im schlimmsten Fall bestehende Ängste zu verschlimmern, weil das Pferd wirklich Panik bekommt. Von daher gehe ich meistens so vor: Wenn ich mit Mila am Stall in einem von mir kontrollierbaren Umfeld arbeite, dann mache ich dies meistens alleine. Wenn wir mit Mila spazieren gehen und ich nicht genau sagen kann, was uns unterwegs begegnen könnte nehmen wir meistens Cody mit. Cody ist bei so etwas meistens Gold wert (außer wir begegnen Schafen, Cody mag wirklich keine Schafe, da brauche ich ein anderes Vorbild für Mila). Seit dem Tag, an dem Mila zu uns kam war Cody immer die Stute, an deren Seite Mila gerannt ist, wenn ihr irgendwas fremd und unheimlich war. Cody ist auf der einen Seite auf Grund ihres Alters in fast allen Situationen sehr erfahren und ruhig. Gleichzeitig ist Cody trotz ihres Alters nach wie vor sehr dominant und Chefin der Stuten. Was ich hier als Dominanz beschreibe ist eigentlich ein Gesamtpaket aus Selbstsicherheit, Souveränität, ausgestrahlter Kompetenz und Verlässlichkeit.

Dieses Gesamtpaket ist auf der einen Seite der Grund, warum Mila Cody mit so großem Vertrauen folgt, selbst als wir einmal an einer großen auf der Straße neben der Weide stehenden Baumschreddermaschine des Straßengrünamtes vorbei mussten. Auf der anderen Seite führt einem dieses Gesamtpaket sehr deutlich vor Augen, welche Rolle man selbst als Mensch und Bezugsperson einnehmen muss.

Aber wie gehe ich jetzt konkret vor, wenn ich Mila an einen fremden und tendenziell furchteinflößenden neuen Gegenstand gewöhnen möchte? Am liebsten gehe ich dann mit ihr auf einen ruhigen und sicher abgezäunten Platz, den Mila kennt und wo sie sich erst einmal möglichst sicher fühlt. Dann mache ich das Halfter ab, so dass wir uns alle erst einmal frei bewegen können. Und dann hole ich mit einer möglichst großen Selbstverständlichkeit den heutigen gruseligen Gegenstand hervor, sei es eine Plane, eine an eine Gerte oder Stock gebundene Plastiktüte, Flatterband, eine Fahne, ein knisternder Futtersack, ein großer Gymnastikball oder was auch immer. Ich bewege den Gegenstand gerade so viel, dass ich Milas Aufmerksamkeit bekomme und schaue mir erst mal ihre Reaktion an. Wenn sie neugierig ist und vorsichtig näher kommt gebe ich ihr dazu die Gelegenheit, wenn es ihr suspekt ist und sie lieber weg springt kann sie das aber auch machen. Dann bleibe ich mit meinem Gegenstand ruhig in der Mitte des Platzes, nähere mich ihr leicht, wenn sie von mir weg denkt und gehe auf Rückzug, wenn sie sich mir zuwendet. Es braucht auf der einen Seite Geduld, auf der anderen Seite die Belohnung durch Rückzug in dem Moment, wo man einen wichtigen Teilschritt erreicht hat. Am Anfang kann dieser Teilschritt das Wenden des Pferdes zum Menschen hin sein, später, dass man das Pferd in immer kleineren Abständen mit dem Gegenstand umrunden kann, dann, dass das Pferd den Gegenstand riecht, dann eine erste Berührung mit dem Gegenstand. Am Ende möchte man das Pferd mit dem erschreckenden Gegenstand an den Stellen berühren können, die das Pferd instinktiv am meisten vor Angriffen durch Raubtiere schützen möchte, gerade auch der Bereich, in dem man sich später als Reiter aufhält. Aber das Tempo, in dem man sich diesem Ziel nähert bestimmt nicht der Mensch, sondern das Pferd durch seine Reaktionen.

Neben der oben beschriebenen Desensibilisierung in Freiarbeit mache ich das Ganze natürlich auch am Halfter. Zum Beispiel, weil ich üben möchte, über eine Plane zu gehen oder um das Pferd nicht nur im Stand, sondern auch in der Bewegung im Schritt mit dem Gegenstand zu berühren. Wenn ich relativ wahrscheinlich erwarte, dass Mila einen Satz machen kann wähle ich zuerst die Freiarbeit, weil ich dabei gefahrloser schauen kann, wie sie reagiert. Am Knotenhalfter achte ich dann immer darauf, dass ich selbst so stehe, dass sie im Zweifelsfall an mir vorbei springen kann. Ich übe dann im Vorfeld auch noch einmal das Weichen, um möglichst sicher sein zu können, dass sie auch in etwas aufgeregter meinen persönlichen Raum respektiert und nicht in mich hinein rennt. Und ich benutze ein mindestens 4 Meter langes Seil an ihrem Halfter, denn damit kann ich ihr den Raum geben, einen Satz zur Seite zu machen und ihre Bewegung dann aber auf eine kontrollierte Zirkellinie um mich herum lenken.

Wie bei aller Arbeit mit Pferden darf man bei all dem nicht vergessen, dass Pferde unglaublich gute Antennen für die Stimmung ihrer Menschen haben. Wenn der Mensch denkt: „Das ist eine Plastiktüte, davor hat mein Pferd Angst, deshalb muss ich mich jetzt mit dieser Tüte dem Pferd mit ganz besonderer Vorsicht nähern“, so spürt das Pferd diese besondere Vorsicht, und wird von ihr verunsichert. Wenn der Mensch denkt: „Ich muss aufpassen, mein Pferd ist angespannt, es kann gleich einen Satz machen“, so spürt das Pferd diese Angst und sieht sie als Bestätigung seiner eigenen Angst. Und wenn der Mensch denkt: „In der heutigen Trainingsstunde müssen wir bis zu dem Punkt kommen, wo ich mein Pferd mit dieser Tüte am Hals berühren kann“, so spürt das Pferd diesen unterschwelligen Druck und Zwang, und wird deshalb unter Umständen komplett blockieren. Ich denke nebenbei, dass dies der Hintergrund ist, weshalb der bekannte Trainer Pat Parelli in seinem Bodenarbeitskonzept immer von den „games“ oder „Spielen“ spricht. Es geht dabei um den Mindframe oder die Grundeinstellung, mit der der Mensch in die Arbeit mit dem Pferd hinein geht. Nicht zwanghaft, sondern mit einer Offenheit für die Beiträge des Pferdes, nicht ängstlich, sondern fröhlich, weil man wertvolle Zeit mit seinem Pferd verbringen wird. Und mit dem Gesamtpaket aus Selbstsicherheit, Souveränität, ausgestrahlter Kompetenz und Verlässlichkeit, das ich jeden Tag von meiner Leitstute Cody vorgelebt bekomme.

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