Unter „Das Fluchttier“ hatte ich beschrieben, wie ich Mila mit verschiedenen Gegenständen desensibilisiere. Dabei war das Ziel, dass Mila sich beim Anblick von seltsamen Gegenständen wie Plastiktüten oder Flatterbändern nicht ängstlich aufgeregt auf diese fokussiert, sondern im Gegenteil sich so sehr entspannen kann, dass sie das Flattern praktisch ignoriert. Dabei gibt es jetzt aber ein Problem, insbesondere, wenn man das Pferd mit Gegenständen wie einem Seil desensibilisiert, die man gleichzeitig in der Bodenarbeit zur Kommunikation benutzt. Auf der einen Seite soll das Pferd diese Gegenstände nicht als beängstigend wahrnehmen, es soll sich entspannen und die Gegenstände möglichst ignorieren. Auf der anderen Seite soll es sehr aufmerksam verfolgen, wie wir mit dem Seil, dem Bodenarbeitsstick mit String oder dem Tütenstick unsere eigene Körpersprache verdeutlichen, und dann auf möglichst kleine Signale hin mit den in der Bodenarbeit erarbeiteten Bewegungsmustern reagieren. Wenn es darum geht, die Gelassenheit des Pferdes zu schulen, so wollen wir auch einmal mit viel Energie in der Nähe des Pferdes ein Seilende oder einen Tütenstick schwingen oder mit dem Bodenarbeitsstick auf die Erde hauen. Wenn es um die Aufmerksamkeit in der Bodenarbeit geht (später die Durchlässigkeit für reiterliche Hilfen), so soll das Pferd auf möglichst kleine und subtile Gesten wie das leichte Schwingen des Seils zügig und mit einer gewissen Motivation reagieren. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist, dass das Pferd lernen muss zu Unterscheiden zwischen einer Kommunikation, mit der der Mensch das Pferd anspricht und einem energievollen aber unfokussierten „Herumgehampel“ des Menschen, das mit ihm nichts zu tun hat und das es daher getrost ignorieren kann.
Diese Unterscheidung muss man dem Pferd aber erst einmal verständlich machen. Wenn Mila mit ihrem Knotenhalfter vor mir steht und es mir um das Desensibilisieren und die Gelassenheit geht, so sehe ich sie nicht direkt an, sondern zeige mit meiner Körpersprache so deutlich wie möglich, dass ich gerade von ihr abgewendet bin. Dann kann ich zum Beispiel ein Seil oder meinen Bodenarbeitsstick schwingen oder diesen auch auf die Erde auftreffen lassen. Wenn Mila dann einige Schritte in irgendeine Richtung macht, würde ich so lange weiter machen, bis Mila stehen bleibt. Später kann man das dann auch noch steigern, indem man sie ihren Kopf dabei leicht senken lässt, um ihr so deutlich zu machen, dass sie sich wirklich entspannen kann. Oder man kann auch das Seilende leicht gegen ihre Beine oder ihren Rumpf schwingen, um ihr zu zeigen, dass dies auch kein Grund zum Aufschrecken ist.
Das Gegenteil davon ist dann, wenn ich mich mit meinem Körper komplett Mila zuwende, sie konzentriert und fokussiert anschaue und ihr durch eine wippende Bewegung des Seils oder des Sticks zu verstehen gebe, dass sie z.B. rückwärts weichen soll oder mit ihrer Hinterhand seitlich kreuzen soll, je nach dem, auf welchen Teil von ihrem Körper ich mich konzentriere. Hierbei werde ich dann natürlich erst in dem Moment aufhören, in dem sie die geforderte Bewegung macht.
Am Anfang hat Mila diese beiden Situationen natürlich manchmal verwechselt, aber ich war erstaunt, wie schnell sie gelernt hat, mich und meine Absicht in dieser Hinsicht richtig zu deuten. Wie in den meisten Situationen, in denen das Pferd eine Unterscheidung lernen soll, hat es auch hier geholfen, immer wieder zwischen Desensibilisierung und Sensibilisierung zu wechseln, um Mila so die Unterscheidung deutlicher zu machen. Nach einiger Zeit konnte ich die Desensibilisierung sogar nutzen, um eine gewisse Ruhe zu erzeugen. Denn es macht Pferde tatsächlich gelassener, wenn sie einmal gelernt haben, dass sie nicht auf alle möglichen Reize um sie herum reagieren brauchen, sondern nur in den Situationen, in denen sie verstehen, dass der Mensch mit ihnen tatsächlich kommuniziert. In dem Kontext habe ich Mila auch beigebracht, ihren Kopf zu senken, um mich dann neben ihren Kopf zu hocken und einfach nur eine entspannte Pause zu machen. Es gibt einfach so viele aufregende Sachen, mit denen ein junges Pferd im Verlauf seiner Ausbildung konfrontiert wird, dass ich eine Handlung haben möchte, die immer bedeutet „alles ist gut, wir können uns entspannen und eine Pause machen“. Ich möchte darauf dann später immer wieder zurück greifen können, wenn ich Anspannung aus einer Situation nehmen will oder auch als Belohnung, wenn etwas anstrengender war.
Bei einer anderen Gelegenheit hatte ich Mila in der Bodenarbeit beigebracht, eine Vorhandwendung zu machen, wenn ich mit meiner Hand in der „hinteren Schenkelposition“ drücke. Wenn ich dagegen eine Handbreit weiter vorne drücke, sollte sie seitwärts weichen. Damit wollte ich natürlich die späteren Schenkelhilfen vorbereiten. Dabei hatte ich dann nicht genug darauf geachtet, den Druck „wieder weg zu streicheln“, wenn Mila die Übung korrekt gemacht hatte. Ich hatte sie also auf den Druck meiner Hand sensibilisiert, aber ohne im gleichen Maße die zufällige, streichelnde Bewegung an der selben Stelle zu desensibilisieren. Das Ergebnis war, dass Mila sofort bei der kleinsten Berührung zur Seite gewichen ist, selbst, wenn das gar nicht meine Absicht war. Ich möchte ja Mila zu einem Pferd ausbilden, die auf leichte Hilfen hin reagiert. Aber gleichzeitig soll sie auch gelassen und entspannt sein, was zufällige Berührungen oder auch einmal hektische Bewegungen um sie herum angeht. Von daher hatte mir diese Erfahrung noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, dass sich Sensibilisierung und Desensibilisierung immer ergänzen und die Waage halten.
Von daher versteht man jetzt, dass Trainer sagen, dass man jedes Mal, wenn man mit einem Pferd zu tun hat, dieses entweder sensibilisiert oder desensibilisiert. Abhängig davon, wie bewusst man handelt, wie konsequent man eine bestimmte Reaktion einfordert oder, die wohl wichtigste Frage, womit man sich zufrieden gibt. Denn das ist auch so eine Sache, die ich gelernt habe. Das Pferd macht die Sachen nie so gut, wie man sie ihm vielleicht beibringt, sondern immer so gut, wie der Mensch sich mit dem Ergebnis zufrieden gibt und sagt „ah, das passt schon“.