Die Frage, ob man sein eigenes Pferd selbst anreiten kann, oder ob man es auf jeden Fall für die Grundausbildung in Profiberitt geben soll, wird ja durchaus sehr kontrovers diskutiert. Und leider hört man unter Freizeitreitern von so vielen schlimmen Geschichten, wo zum „einreiten“ irgendein nicht zu schwerer Teenager einfach mal auf das Pferd gesetzt wurde. Mit dem Ergebnis, dass der Teenager runter gebuckelt wurde und sich dabei womöglich verletzte, und das Pferd um einen katastrophalen Ersteindruck reicher war. Das solche Geschichten relativ weit verbreitet scheinen macht sie ganz sicher nicht weniger unverantwortlich in jeglicher Hinsicht. Also doch unbedingt Profiberitt? Die Thematik des Einreitens geht offensichtlich weit über das hinaus, was man im alltäglichen Umgang mit einem bereits ausgebildeten soliden Freizeitpferd an Erfahrung und Wissen braucht. Ich bin daher für mich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Frage, ob man die Ausbildung selbst in die Hand nehmen soll, von drei wichtigen Faktoren abhängt:
1. Jahrelange intensive Erfahrung in Umgang und Reiten mit verschiedensten Pferden und auch auf jeden Fall Erfahrung mit einem eigenen Pferd.
2. Der eigene intensive Wunsch, sich so richtig in die Thematik des Anreitens einzuarbeiten und sich dazu so viel Hintergrundwissen wie möglich anzueignen. Und zwar im Vorfeld und nicht, wenn bereits irgend ein Problem aufgetreten ist.
3. Eine wirklich gute Trainerin vor Ort, die einen in regelmäßigen Abständen besucht, bei der praktischen Umsetzung unterstützt und einem frühzeitig sagt, worauf man besonders achten muss, bevor sich Sachen in eine falsche Richtung entwickeln.
Für mich persönlich war dabei insbesondere der zweite Punkt unglaublich wichtig. Ich hatte schon so lange den riesigen Wunsch in mir, mich intensiv damit beschäftigen zu können, wie Tiere und speziell Pferde lernen und wie man sie trainiert, wie man ihnen Sachen beibringt.
Das war jetzt eine relativ lange Vorrede. Aber gerade, bevor man anfängt, sich auf das Pferd zu setzten und es reiten zu wollen ist ein Moment, um noch einmal zu reflektieren. Hat man dem Pferd wirklich alles beigebracht, was es als Voraussetzung braucht?
Das Anreiten eines Pferdes ist eine sehr komplexe Thematik, welche man dem Pferd vermitteln möchte. Nach den Regeln der Didaktik muss man diese Thematik zuerst analysieren und in ihre einzelnen Bausteine zerlegen. Diese Bausteine sortiert man dann entsprechend ihres Schwierigkeitsgrades so, dass sie jeweils aufeinander aufbauen. So kommt man zu einer Unterrichtsreihe oder zu einem Trainingsplan, den man dann wiederum in kleine Lerneinheiten zerlegen kann. Darin sehe ich die Hauptschwierigkeit, wenn man versucht, etwas mit Hilfe der sozialen Medien wie z.B. Youtube-Videos zu lernen. Man bekommt punktuelles Wissen über einzelne Lerneinheiten, aber nicht den Überblick des gesamten Trainingsplans mit seinen inneren Verzahnungen: „Was wird an welcher Stelle wieder aufgegriffen?“.
Im Folgenden möchte ich einmal die Bausteine auflisten, die ich mit Mila speziell als Vorbereitung auf das Einreiten im Blick hatte. Unter „Ausblick“ steht dabei jeweils, in welcher Art und Weise dieser Baustein für das spätere Reiten relevant wird.
- Vertrauen und Respekt. Diesen Punkt habe ich aus offensichtlichen Gründen an die erste Stelle gestellt, denn ohne eine solche Beziehung zu dem Pferd wird alles weitere nicht funktionieren. In jedem einzelnen Beitrag, den ich hier bereits verfasst habe, habe ich mit Mila an dieser Beziehung gearbeitet. Ausblick: Alles weitere…
- 2. Desensibilisierung des Rückens. Wir alle kennen die Naturdokus, in denen der Löwe auf den Rücken des Zebras springt, um ihm in die Kehle zu beißen. Entsprechend muss man dem Pferd die Möglichkeit geben, Stück für Stück vertraut und entspannt damit zu werden, dass sich die verschiedensten Gegenstände (Tütenstick, Plane, Gymnastikball, Poolnudel, …) in diesem sensiblen Bereich befinden. Und dann zählt auch dazu, dass ich als Mensch angefangen habe, mich Schritt für Schritt in diesem Bereich aufzuhalten, durch hüpfen neben dem Pferd, durch über das Pferd lehnen, durch auf das Pferd legen mit dem Oberkörper und schließlich durch ein auf das Pferd setzen, nur wenige Sekunden und ohne irgend etwas von dem Pferd in dieser Situation zu wollen. Ausblick: Aufenthalt auf dem Pferderücken…
- 3. Laterale Biegung des Halses. Dies war eine der ersten Übungen der Bodenarbeit, bei der es darum ging, dass Mila dem leichten Zug am Strick folgend ihren Kopf zur Seite biegt, ohne dabei Gegendruckverhalten zu zeigen. Ausblick: One-rein-stop, direkter Zügel, Entwicklung von vertikaler Nachgiebigkeit aus lateraler Nachgiebigkeit.
- 4. Verschieben der Hinterhand. Auch dies war eine sehr frühe Übung der Bodenarbeit. Dabei hatte Mila gelernt, einen leichten Druck am Rumpf als Kommunikation zu verstehen und mit einem seitlichen Kreuzen der Hinterbeine diesem Druck zu weichen. In Verbindung mit einem Verschieben der Vor- und Mittelhand konnten so die verschiedenen Schenkelpositionen vorbereitet werden. Ausblick: Schenkelhilfen, Kontrolle der Hinterhand als „Motor des Pferdes“.
- 5. Übergänge der Gangarten. Dies habe ich mit Mila sowohl an der Longe als auch in der Freiarbeit geübt. Am Anfang war schon ein Antraben etwas sehr aufregendes, dann wurden die Trab-Schritt Übergänge langsam Routine. Der Galopp als Fluchtgangart war auch Anfangs mit viel Aufregung verbunden, er kam im Außen- oder Kreuzgalopp daher. Es war eine Frage von sehr regelmäßiger Übung, bis alle Gangarten und Übergänge sauberer und routinierter wurden. Ausblick: Das Pferd überlässt dem Menschen die Kontrolle über Tempo und Richtung seiner Bewegung; mentale Losgelassenheit in der Bewegung.
- 6. Sattel und Gurtdruck. Ich habe mir mit Mila sehr viel Zeit genommen, sie Schritt für Schritt an die Ausrüstung zu gewöhnen. Gegenstände auf ihrem Rücken kannte Mila ja schon von der Desensibilisierung des Rückens, aber gerade der Gurtdruck kann durch seine einengende Wirkung am Anfang beängstigend sein oder zu Abwehrreaktionen führen. Bevor ich für Mila überhaupt einen passenden Sattel bekam habe ich sie über Monate entweder mit einem baumlosen Reitpad oder mit einem Longiergurt in allen Gangarten longiert, wobei ich den Gurt über Wochen sehr langsam immer mal ein Loch enger schnallte. Als ich Mila dann das erste Mal mit Sattel longierte, hat sie im Galopp etwas gebuckelt. Von daher habe ich ihr da dann auch Zeit gegeben, sich an den Sattel in allen Gangarten zu gewöhnen. Dann macht es auch Sinn, das Pferd vor dem Reiten an Gegenstände zu gewöhnen, die man gut am Sattel befestigen kann. Dies habe ich z.B. mit einer im Wind flatternden Regenjacke gemacht, die Mila aber dann gar nicht so groß beeindruckt hatte. Ausblick: Ein entspanntes erstes Aufsitzen …
- 7. Doppellonge / Fahren vom Boden. Vom Longieren kannte Mila bisher nur, dass die Signale von mir immer aus der Richtung kamen, in der ich stehe und wo sie mich sieht. Bei Pferden sind die beiden Gehirnhälften nicht gut vernetzt, von daher konnte die jeweils andere Gehirnhälfte dann „ein Schläfchen machen“. Dies änderte sich durch die Doppellonge, plötzlich gab es einen „äußeren Zügel“ und Signale von der Richtung, in der ich mich gar nicht befinde. Dies war eine gewaltige Umstellung für Mila und hat einige Wiederholungen und Übung gebraucht, bis sie sich an das neue Konzept gewöhnt hat. Um die Umstellung nicht zu groß zu machen habe ich von daher erst einmal meine Position im Zirkel und Milas Position auf der Zirkellinie beibehalten, wie Mila es vom Longieren kannte. Erst als sie mit der Doppellonge vertrauter wurde und sie Verschiebungen und Verkleinerungen / Vergrößerungen der Zirkellinie gut annahm, habe ich meine Position immer mehr hinter sie verlagert und so den Übergang zum „Fahren vom Boden“ vollzogen. Dabei musste Mila dann zwei weitere neue Aspekte verarbeiten. Zum einen die Umstellung zwischen Rechts- und Linkskurven, die ja jeweils auch eine Umstellung zwischen den beiden Gehirnhälften bedeutet. Deshalb hat Mila dann häufig im Wendepunkt angehalten, um erst einmal umzudenken. Zum anderen sollte Mila sich nach mir richten, selbst dann, wenn ich hinter ihr im toten Winkel verschwand. Da habe ich dann versucht, ihr durch meine Stimme zu helfen. Ausblick: Zügelhilfen, Verschwinden des Reiters im toten Winkel
Tja, und irgendwann, nach zwei Jahren Vorarbeit, waren wir dann an diesem Punkt. Ich hatte mich so riesig darauf gefreut, jetzt langsam mit dem Reiten anfangen zu können. Aber dazu mehr im nächsten Beitrag…